Bericht zu Neustadt in der Rheinpfalz

erschienen in der RHEINPFALZ Mittelhaardter Rundschau am 31.08.2011

Auf den Spuren der Erinnerung
Ein Ehepaar aus Ludwigshafen besucht Orte und Stätten, die Freunden besonders viel bedeuten – Reise mit der Bahn wird Kunstprojekt

Von Marika Schiller

Erinnerungen anderer Menschen nachspüren, zu ihren Sehnsuchtsorten reisen und dabei zu sich selbst kommen – die Eheleute Marlis Jonas und Joachim Krueger aus Ludwigshafen brechen seit fast einem Jahr immer wieder auf, um mit der Bahn an Orte zu fahren, die Freunden und Bekannten etwas bedeuten – wie zuletzt Neustadt. Ein kreatives Projekt mit Nebeneffekten.

Mit nagelneuen roten Sandalen an den Füßen die Stadt entdecken. Auf dem Heimweg von der Schule dem Läuten der Kirchenglocken lauschen und den Marktfrauen Grimassen schneiden. Sich die Nase am Schaufenster platt drücken und die Biskuit-Teilchen zu 25 Pfennig beim Bäcker betrachten. Im Turm der Stiftskirche wohnte damals noch der Türmer mit seiner Familie; die Konfirmanden sammelten Geld für neue Glocken, der Zirkus kam noch aus Paris und die Winzinger Kerwe wurde als „das höchste Fest” im Jahresverlauf gefeiert. Das sind beispielsweise solche Erinnerungen aus dem Freundeskreis. Das ist Neustadt, gesehen mit den staunenden Augen eines heranwachsenden Mädchens, das seine Kindheit bis dahin im „hintersten Odenwald” verbracht hatte und in den 1950er-Jahren Neustadt als neue Heimat erlebte.

60 Jahre später hat die junge Frau von damals sich an ihre Schreibmaschine gesetzt und sie für Jonas und Krueger aufgeschrieben, für ein Projekt, das ihr gefällt. Viele Menschen hatten es ihr seit 2008 gleich getan. Hatten zurückgeblickt auf ihr Leben, sich erinnert, sich gesehnt und ihre Geschichten in ganz unterschiedlicher Form den Initiatoren des Projekts preisgegeben.

Sie in wenigen Sätzen auf einen Zettel notiert oder ausführlich beschrieben, mit Skizzen und Bildern versehen. „Schon an diesem Punkt beginnt die kreative Auseinandersetzung mit dem Thema Erinnerungen”, sagt Marlis Jonas, „für den Ideengeber und für uns.”

1948 in Dortmund geboren, studierte Jonas bildende Kunst und Werkerziehung, arbeitete als Kunsterzieherin und seit 1998 als freie Fotografin. Zum jüngsten Projekt inspirierte die heute in Ludwigshafen lebende Künstlerin ihr Mann, der beruflich oft mit der Bahn unterwegs ist und der als zahlenaffiner Diplom-Mathematiker ein besonderes Talent im Organisieren besitzt. Denn nur selten sind ihre Reisen, wie jene die sie jetzt nach Neustadt führte, Tagesausflüge. Oft verbindet das Paar verschiedene Sehnsuchtsorte miteinander, wie Waren an der Müritz inmitten der Mecklenburgischen Seenplatte mit der Hansestadt Wismar und der Ostseeinsel Poel.

„Eine Machbarkeitsstudie erstellen”, nennt Krueger den Versuch, jeweils drei bis fünf Ziele zu verquicken und dafür Fahrpläne zu studieren, nach Übernachtungsmöglichkeiten zu suchen und gedanklich den schon einmal den Ort zu skizzieren, nach dem sich der jeweilige Ideengeber sehnt. Wobei Letzteres nur vage erfolgt. „Schließlich wollen wir uns dem Moment überlassen, die Erinnerungen als Fixpunkte zwar, aber als nichts Statisches verstehen”, sagt Jonas. Ihr Reisegepäck ist stets so leicht wie möglich, ob es nun nach Berlin gehe oder nach Neustadt. Immer dabei: Kamera und Stativ, GPS-Gerät, Handy, Computer, Drucker und Ladegeräte.

Für ihr Projekt „Bahn-Zeit-Reise” sind Jonas und Krueger bislang mehr als 32.187 Kilometer mit dem Zug gefahren, haben 997 Kilometer zu Fuß und 100 Kilometer mit dem Fahrrad zurückgelegt, waren auch mit Fähre, Tretboot oder Schiff unterwegs. Es existieren unzählige Fotos und Reiseberichte sowie Tonaufzeichnungen.

„Reisemüde sind wir dabei keineswegs geworden”, sagt Jonas, denn „die Erkundungen führen uns doch im Wesentlichen zu uns selbst.” So hat sie auch die Neustadt-Geschichte in die eigenen Nachkriegsjahre geführt, als auch sie Kinder waren. Und dazu an einen Ort, der ihnen nicht unbekannt war, den sie aber jetzt mit anderen Augen gesehen haben.

Wie alle 54 Ideengeber zuvor, wird auch die Neustadterin eine Postkarte erhalten. Zu sehen ist darauf das Ehepaar Jonas-Krueger in Neustadt (deshalb der Drucker im Gepäck). Die Grüße auf der Rückseite beginnen immer mit denselben Worten: „Wir sind auf deinen Spuren…”. Exklusiv ist dieses Mal die Beilage an eine besonders süße Erinnerung, eine Kostprobe aus dem Schaufenster der Confiserie Michel.

Noch Fragen?

Marlis Jonas und Joachim Krueger wollen die Erfahrungen während ihrer Reisen in einem weiterern Projekt aufarbeiten. Eine ausführliche Projektbeschreibung, Berichte und Fotos gibt es im Internet auf www.bahn-zeit-reise.de

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Eine Antwort auf Bericht zu Neustadt in der Rheinpfalz

  1. Gabriele Heck sagt:

    „Reisemüde sind wir dabei keineswegs geworden”, sagt Jonas, denn „die Erkundungen führen uns doch im Wesentlichen zu uns selbst.”

    Das ist eine tolle Formulierung!

    Ich möchte diesen Satz wie folgt interpretieren:
    (1) Einerseits können in der Ferne Orte der eigenen Vergangenheit liegen, die man durch den Besuch nach langer Zeit wieder erlebt oder wiedererlebt; vielleicht genauso wie früher (weil man sich exakt erinnert und Gefühle von damals aufsteigen lässt), vielleicht aber auch ganz anders, weil man sich selbst oder der Ort verändert hat – oder beides.
    (2) Andererseits begreift man oft erst, wer man ist oder was von einem übrig bleibt, wenn man die aktuell vertraute Umgebung verlässt und nur “sich selbst” mitnimmt, also sein Äußeres (wie sein räumliches Zuhause) zurück lässt und nur sein Inneres (sein Zuhause im Kopf und im Herzen) mitnimmt.

    Vielleicht kann man auf Reisen die Frage, ob man in sich ruht und bei sich zuhause ist, besser beantworten?