12. Juli: Ausflug von Kassel nach Großbartloff

Tagesausflug von Kassel: Großbartloff (Ideengeber: Christel Busse) im Eichsfeld, schon mehrfach angedacht

Heute hat mich Marlis schon wieder überholt. Ihre Allergie hat sie etwas geärgert, und so ist sie schon früh wach. Sie hatte sich nach der spätesten Frühstückszeit erkundigt, jetzt muss sie sich an die früheste erinnern und erlebt mal die Geschäftsleute beim Frühstück. Als sie wieder aufs Zimmer kommt, wache ich gerade auf, ich musste und konnte mich von der Woche ausschlafen. So habe auch ich reichlich Zeit zum Frühstücken und Vorbereiten, und unsere Diskussion: Mietauto, späteste Verbindung nach Großbartloff, 900 Einwohner mitten im Eichsfeld, ist hinfällig, wir können die beste um 10:05 nehmen. Die aktuellen Zahlen der Bahn zeigen, dass bei der späteren der knappe Anschluss in Göttingen heute schiefgegangen wäre.
Es ist warm und sonnig, durch viel Wald geht es von Kassel über Hann.Münden und Eichenberg nach Heilbad (seit 1993) Heiligenstadt, Kreisstadt des Eichsfeldes. Christel Busse ist hier bei Nachkommen ihres Großvaters, der aus dem Ort stammt, auf der Flucht von Königsberg zwischengelandet, nach einer abenteuerlichen und entbehrungsreichen wochenlangen Fahrt musste sie sich auf dem Bahnhof in Heiligenstadt erstmal an den Zielort erinnern und wird dann sicherlich mit der “Kanonenbahn”, die als Teilstrecke der Direktverbindung zum Westwall nach Eschwege führte und 1993 stillgelegt wurde, nach Großbartloff gefahren sein, heute Draisinenstrecke für Touristen. Diese Orte werden wir uns heute anschauen und auch nach dem Namen des Großvaters Schreiber Ausschau halten.
In Heiligenstadt treffen wir auf einen kleinen, gut renovierten Bahnhof mit schönem Vorplatz, Stadtbushaltestelle und einem modernen ZOB. Der Kreis Eichsfeld betreibt ein eigenes Bussystem mit zentralen Knoten, das jedes Dorf erreicht, wobei es an Wochenenden und in den Ferien etwas dünn werden kann. Das System können wir etwas kennenlernen, der Busfahrer vertritt einen Kollegen und tippt erstmalig auf dem Computer herum. Am Marktplatz steigt sein Kollege ein, der ab der Buszentrale die Fahrt übernimmt, die dann richtig nett wird, wir erzählen und bekommen den Kreis erklärt. Im Zickzack geht es durch kleinste Orte im Kreis bis zum nächsten Knoten Dingelstädt. Wir warten ein paar Minuten, unser nächster Bus ist schon angezeigt. Beinahe hätten wir ihn dann doch übersehen, denn es ist ein unauffälliger Achtsitzer. Die Besichtigung des Kreises Eichsfeld wird bis Großbartloff fortgesetzt, gegen 13 Uhr sind wir da.
Das Dorf liegt etwas abseits, der Verkehr ist begrenzt, wir treffen auf eine schöne, unaufgeregte Häusermischung mit viel Fachwerkbestandteilen und wenig Stilbrüchen in gutem Zustand und manchem nett gepflasterten Sträßchen. Die Infrastruktur ist überraschend gut, nach kurzer Zeit haben wir Edeka-Laden, Bäcker, Kneipe, Allgemeinarzt, Blumenladen und einige Handwerksbetriebe entdeckt. Alles gibts nur einmal, aber alle Achtung, für den Alltag ist alles da. Von hinten gehen wir in den Kummerberg. Christel Busse konnte uns Details nicht mehr sagen, sie ist 2009 verstorben, ihre Tochter hat uns aus der Erinnerung eines Besuchs gleich nach der Wende diese Straße genannt, dort hatten sie gemeinsam einen Vetter besucht, der das Haus von “Mariechen”, der Zwischenstation auf der Flucht, damals bewohnte. Mehr wusste sie nicht.
Wir beginnen mit der Suche. Auf der Straße treffen wir Wilhelm Wallbraun, der als Malermeister einiges kennt, aber unsere Geschichte nicht auflösen kann. Er führt uns zur Nachbarin Elisabeth Schreiber, wir schauen zusammen in die drei Bände Ortschronik, kommen damit aber ohne Nachnamen auch nicht recht weiter. Sie denken die Häuser der Straße rauf und runter. Schreiber gibt es mehrere, auch ohne Zusammenhang mit Otto Schreiber, und der Zweig kann sich schon namentlich verändert haben. Hängen bleiben wir an der Familie Gerling, da soll es eine Marie gegeben haben, wir werden sie besuchen. Zunächst werden wir in die andere Ortsecke am Friedhof zum Ortschronisten und Ahnenforscher Bernd Homeier geschickt, auf dem Weg schauen wir in die schöne katholische Kirche, davor steht die alte Glocke, präsentiert vom Männerkirmesverein St. Peter & Paul. Im Schaukasten des CDU-Ortsverbandes hängt einsam ein Bild des Papstes, mehr Info ist wohl nicht nötig, Wikipedia weist aus: acht Gemeindevertreter, acht CDU. Schnell kommen wir mit Herrn Homeier ins Gespräch, wir bleiben wieder bei den Gerlings hängen, weiteres fällt ihm auch nicht ein. Er erzählt noch von seinen vielfältigen Kontakten in Sachen Ahnenforschung, oft in Erbschaftsangelegenheiten, die Aktenordner füllen, und bei denen es auch um Fragen der Bezahlung geht. Wie bei allen bisherigen Kontakten stößt unser Projekt auf großes Interesse. Er hat auch umfangreiches Material für eine Dorfchronik gesammelt, leider zuerst per Schreibmaschine, wir vermuten, das war zum 700-jährigen Ortsjubiläum 2006 zu schlecht zu verwerten, so sind die anderen erschienen, danach hat er sein Material mit Hilfe seines Sohnes in den Computer getippt, doch jetzt findet er keinen Sponsor mehr. Wir verabschieden uns, er bekommt noch Besuch. In der Bäckerei versorgen wir uns zu Preisen, die für uns aus dem Westen unglaublich günstig sind, und treffen Herrn Homeier wieder. Nun sind wir gerade wieder nahe am Kummerberg (hier gibts übrigens keinen Kummer, sondern es wächst kümmerlich), also suchen wir nach Gerling und finden sie in Hausnummer 3, auf der Terrasse mit Blick über den Ort auf den gegenüberliegenden Hang mit einem großen schlanken Gedenkkreuz. Nachdem wir einiges über Mariechen, den entfernten Vetter und den Besuch 1991/2 erzählt haben, wird klar: Karl und Johanna Gerling, das waren die gastfreundlichen Vettern, und Marie Küstner war Mariechen, wohnte früher hier und ist 1959 in Küllstedt im Krankenhaus gestorben und ihren Sarg hat Herr Gerling im Pferdefuhrwerk nach Großbartloff überführt. Karl Gerling ist tatsächlich 77 und zwar schon etwas langsamer, aber geistig und konditionell fit und bearbeitet noch einen großen Nutzgarten und etwas Landwirtschaft und führt uns durch die alte Schreinerwerkstatt und die “Datscha” im Garten. Er war lange Monteur und hat viel gebaut, alle seine Touren liefen per Bahn, heute fahren sie mit dem Bus. Er bietet sich an, mit uns den alten Bahnhof und den Lutter-Wasserfall aufzusuchen, ein Glücksfall, wir steigen direkt durch sein Grundstück nach oben, über die Wiese durch Elektrozeune, die Direttissima, hätten wir uns nie getraut. Wir treffen im Wald oberhalb des Ortes auf ein süßes kleines Bahnhofsgebäude, an der Schiene steht “Straßenkreuzung, Absteigen” für die Draisinenfahrer, hier gibts ein Prozent Gefälle! Wir sehen einen Tunnel und die Böschung, hier gab es tatsächlich ein zweites Gleis, das nach dem Krieg abgebaut werden musste. Über einen tollen Waldrandweg mit Spitzenblick über den Ort führt uns Herr Gerling wieder direkt über Wiesen hinter Kühen her zum Wasserfall, ein schöner, zehn Meter hoher Felsen in einem kleinen Waldstück, in dem man das fallende Wasser der Lutter bei diesem trockenen Wetter suchen muss, zumal die Teiche der darüberliegenden Forellenzucht, die von den Nachfolgern der LPG betrieben wird, gerade bei Trockenheit Bedarf am Restwasser haben. Wieder zurück am Kummerberg schlagen wir für die verbleibende halbe Stunde bis zum Bus einen Besuch in der Dorfkneipe vor, zu dem Herr Gerling tatsächlich seine Frau motivieren kann. Wir schaffen es, gegen Widerstand eine Runde auszugeben, und das wieder zu halben Preisen. Der Gastwirt sammelt Wände voll die kleinen Modelltrucks, wie unser Onkel Klaus, das ist ein Foto wert. Passend gehen wir zum schon bereitstehenden Rufbus, den wir am Nachmittag bestellt haben, und verabschieden uns herzlich. Es war ein echtes Erlebnis, und wir sind glücklich, dass wir – auch noch in der begrenzten Zeit, die der Bustakt vorgegeben hat – die Spuren wiedergefunden und deutlicher gemacht haben. Der Busfahrer im Achter-Bus stellt uns einen handschriftlichen “Notfahrschein” aus, den Preis kann ich ihm schon von der Hinfahrt nennen, einen Computer hat der Kleinbus nicht. Am ZOB Dingelstädt treffen wir unseren Busfahrer vom Mittag wieder, die Begrüßung ist jetzt schon humorvoll herzlich, wir folgen ihm in den Rewe-Markt gegenüber für die Viertelstunde bis zur Abfahrt. Mit zwei weiteren Fahrgästen starten wir, so fährt er eine etwas größere Route, um alle abzuliefern, und erklärt uns das ausgeklügelte System aus Ruf- und Linienbus mit GPS-Überwachung, automatischer Umstellung auf Leerfahrt usw. Auf Nachfrage empfiehlt er uns alle kulinarischen Lokationen von Heiligenstadt und setzt uns gezielt am Marktplatz ab. Wir sind absolut begeistert vom Busservice im Eichsfeldkreis, der ist wirklich bürgernah! Es wäre sträflich gewesen, hätten wir mit einem Carsharing-Auto Zeit “gespart”, über 30 € mehr ausgegeben und uns um diese Erlebnisse gebracht! Die Ortsmitte von Heiligenstadt ist schön, Fachwerk, Fußgängerzone, mächtige Kirchen und klassizistische Bauten, Barockgarten, wir schauen uns auch eine Gaststätte an, entscheiden uns aber, den letzten durchgehenden Zug zu erreichen und in Kassel zu essen, weil die Läden schon zu sind und es hier demnächst heftig regnen dürfte.
In Kassel bekommen wir eine Empfehlung zum Essen und fahren mit der Straßenbahn zum “Eckstein” am Rathaus, einem deftigen, preiswerten und ideenreichen Restaurant, wie es nur in Studentenstädten zu finden ist. Das Essen kommt schnell, ist heiß und durchaus gut. Satt kommen wir ins Hotel, es hat in Kassel nur etwas getröpfelt, dieser Text entsteht noch vollständig, auch Fotos haben noch Chancen, lassen Sie sich überraschen!

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3 Antworten auf 12. Juli: Ausflug von Kassel nach Großbartloff

  1. Gabriele Heck sagt:

    Man kann wohl kaum erholter und fröhlicher als Ihr beide auf dem “Familienfoto” am Tisch aussehen. Das ist ja unglaublich!
    Man merkt richtig, welche Freude Ihr auf Eurer Reise habt, auch wenn sie manches Mal anstrengend sein mag.

    Könnt Ihr beide überhaupt noch zählen, wieviele neue Menschen Ihr auf Eurer Reise kennen gelernt habt? Und: Ihr lernt Eure Ideengeber ja auch besser kennen, wenn Ihr deren Sehnsuchtsorte aufsucht oder Menschen kennenlernt, die Eure Ideengeber (noch) kennen.

  2. Gabriele sagt:

    Heute kam die Postkarte aus dem Eichsfeld, ich war überrascht und gerührt, dass Familie Gerling wirklich gefunden werden konnte! Ich wusste den Namen der entfernten Verwandten mütterlicherseits nicht mehr, nun kann ich ihnen doch noch mal schreiben. Für meine Mutter (die übrigens amtlich “Christel” und nicht Christine hieß, das galt in ihrem Geburtsjahr 1922 als modern!) war dies immer eine ganz besondere Erinnerung. Karl Gerling war bei ihr als ca. zehnjähriges “Karlchen” abgespeichert. Es war eine sehr harte und schwere Zeit, die sie dort verbrachte, aber auch ein Refugium bei Tante Mariechen und ihrer herzlichen Fürsorge in all dem Mangel der letzten Kriegs- und ersten Nachkriegswochen. Ich erinnere mich genau, wie wir ihr dann in den 1950er-Jahren zu Weihnachten immer Pakete mit Mehl, Zucker, Mandeln usw. in die “Ostzone” schickten.
    Otto Schreiber war der Vater meiner Mutter (*1889, + 1967), “Tante Mariechen” = Marie Küstner seine Kusine oder Tante. Seine Eltern mit ihren zehn KIndern waren um 1900 vom Eichsfeld ins Rheinland ausgewandert, um bei Bayer in Leverkusen Arbeit zu finden.

  3. Peter Krauss sagt:

    Anfangs habe ich ja eher Fotos geguckt, jetzt suche ich auch nach Formulierungen wie
    “schöne, unaufgeregte Häusermischung mit viel Fachwerkbestandteilen und wenig Stilbrüchen”.
    Toll.

    Und wie
    “das ausgeklügelte System aus Ruf- und Linienbus mit GPS-Überwachung, automatischer Umstellung auf Leerfahrt usw.”

    funktioniert, würde mich (und sicher nicht nur mich) auch interessieren.