1. Juni: nach Sigmaringen

Fahrt nach Sigmaringen (Ziel: Linn Schöllhorn), bei Assheuers und durch Schloss und Park

Wir wollen starten, aber irgendwelche Technik-Baustellen gibts immer, unser Festnetzanschluss ist seit gestern gestört, heute morgen soll was gesucht werden. Bis zur geplanten Abfahrt tut sich nichts, wir fahren. Die Telefone sind auf die Handys umgeleitet. Entweder kriegen das die Kinder geregelt, oder es bleibt. Wir fahren jedenfalls, lästig ist nur, dass so unterwegs mehr Telefonunterbrechungen bei uns ankommen und beim Erleben stören können. Es ist heute trübe und kühl, regnet aber (noch) nicht. Die Züge sind voll, jede Menge Kurzurlauber, nicht nur nach Stuttgart, sondern auch weiter über Tübingen auf die Alb, es gelingt uns aber, gute Sitzplätze zu finden. Auf den Höhen ist alles grün und wolkenverhangen. Außer 20 Minuten Verzögerung am Ende durch ein Problem am entgegenkommenden Zug auf eingleisiger Strecke passiert nichts außergewöhnliches. Wir lesen und schreiben. Unsere Ideengeberin Linn Schöllhorn schickt uns in ihr Elternhaus und zu ihren Eltern nach Sigmaringen, wo wir von ihrem Vater am Bahnhof empfangen werden. Schon auf dem kurzen Weg zur Wohnung erreicht uns die Geschichte Sigmaringens und der Hohenzollern mit Volldampf, Hans-Bernd war abgeordneter Geschichtslehrer am örtlichen privaten Gymnasium des Erzbistums Freiburg, 37 Jahre lang und sehr gerne.
Wir erreichen den außergewöhnlichen Wohnort, an dem Linn aufgewachsen ist. Zum weiteren Bericht merke ich gleich an: alle geschichtlichen Daten und Begriffe sind ohne Gewähr, aus dem Gedächtnis. Korrekturen nehme ich gern entgegen.
Das Gebäude ist ein öfter erweitertes Nebengebäude mit 680 Jahren Geschichte des Nonnenklosters Hedingen, früher ein Vorort des damals ca. 1000 Einwohner zählenden Sigmaringen. Vor 34 Jahren haben Assheuers zufällig die freigewordene Wohnung hier entdeckt und sind sofort umgezogen, Linn war da gerade geboren. Mit der Zeit und entsprechendem Kinderzuwachs konnten sie sich auf zwei weitere Wohnungen in dem hohenzollernschen Haus ausbreiten, so dass genug Platz für alle und auch zeitweise Zwischenstationen von Familienmitgliedern war. Wir sehen den Wohnungen an, dass sie so lange und intensiv eingewachsen sind: Überall sind nette Nischen, Sitzgruppen, Ruheplätze, hängen Bilder, liegen Sammlerstücke, ohne dass es unaufgeräumt aussieht. Die Mauern sind fast meterdick, geheizt wird mit Gasöfen und gelegentlich auch mit uralten Kohleöfen. Die Atmosphäre erinnert etwas an Wohngemeinschaften der siebziger Jahre in den Altbauten in Darmstadt. Wir werden herzlichst von Linns Mutter Margarete empfangen, eine Freundin aus der Schweiz und die Nichte Eileen sind da, es gibt selbstgemachten Erdbeerkuchen und Dampfnudeln satt. Margarete ist Kunstlehrerin, jetzt an der staatlichen Gewerbeschule, und unterrichtet auch Pädagogik. Sie strahlt geradezu ansteckende Dynamik und Lebensfreude aus. Ich bin mir noch nirgends so selbstverständlich willkommen vorgekommen. Wir unterhalten uns gleich intensiv über unsere Reisen. An den Außenwänden des U-förmigen Hauses haben wir schon bei der Ankunft die Rosen gesehen, die Linn erwähnt hat. Wir haben die richtige Zeit getroffen: die Rosen blühen in allen Farben. Auch die Linde von 1868 steht mächtig in vollem Grün im Garten. Die Fotos lassen wir uns für morgen, da soll es sonniger werden. Das Sitzen im Garten bietet sich nicht so an, statt dessen läuft Hans-Bernd mit uns durch den langen Garten (auch Prinzengarten) zum Schloss. Dieser sehr schöne, im englischen Stil angelegte Schlosspark mit alten Bäumen, Hügeln und einem Teich mit vielen blühenden Seerosen verbindet Schloss und Prinzenhaus mit der Klosterkirche Hedingen, die heute den Hohenzollern gehört und in deren Gruft etliche Hohenzollern beerdigt sind. Die Kirche wird nur zu besonderen Gelegenheiten geöffnet, sie steht direkt vor dem Wohnhaus, mit dem sie teilweise verbunden ist. Ursprünglich war es ein Nonnenkoster, das wegen “sittlicher Verwahrlosung” 1680 aufgelöst wurde, danach kamen Franziskaner. Unter dem Garten dürften noch Gräber liegen. Von 1818 bis 1890 war der Komplex Gymnasium.
Im Schloss sehen wir eine Ausstellung über die Hohenzollern und ihre Bedeutung und der Sigmaringens in der großen Politik. Für Sigmaringen begann es mit der Erbteilung des Hohenzollern-Gebietes 1576 in Hechingen, Sigmaringen und Haigerloch. Von September 1944 bis April 1945 war das Schloss exterritoriales Gebiet als Sitz der französischen Vichy-Regierung unter Petain. Wir sind bei der letzten Schlossführung dabei, auf einem roten Teppich geht es durch viele beeindruckende Räume mit Originaleinrichtung. Durch die Fenster blickt man auf die unten vorbeifließende Donau. Größere Teile des Schlosses sind nach einem Brand um 1900 neu aufgebaut worden, damals haben die Hohenzollern Strom und Zentralheizung sowie Bäder vorgesehen und teilweise auch im älteren Schlossteil nachgerüstet. Herausragend sind Ankleide, Herrenzimmer, Ahnengalerie und die speziellen Einrichtungen, die jeweils für ein Mitglied der Familie nachgerüstet wurden. Hans-Bernd ergänzt die Ausführungen der jungen Führerin mit etlichen geschichtlichen Details und Hintergründen. Zum Schluss bekommen wir eine große Waffen- und Rüstungssammlung zu sehen. Über die Pfarrkirche mit einem heute noch benutzten Taufkissen und die kleine, hügelige Altstadt vorbei am Rathaus gehen wir durch den Park zurück, vorbei an der zugewucherten Rodelstrecke aus Linns Kindheit. Das beim Übergang von draußen nach drinnen beschlagene Objektiv liefert malerische Verläufe. Es folgt ein üppiges Abendessen an einem anderen Tisch. Wir werden weiter zu unseren Reiseerlebnissen befragt, bei der Frage nach dem komischsten Erlebnis müssen wir echt nachdenken. Erst jetzt beim Schreiben fältt es mir wieder ein: das war der Winterabend in und ab Koblenz mit dem 1€-Brötchen im Bahnhof und die Begegnung mit den Zugbegleitern im IC. Nach intensiven Gesprächen über Reisen, Schule und Vergangenheit ziehen wir uns um Mitternacht in die obere Wohnung zurück, die wir ganz für uns haben.

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Eine Antwort auf 1. Juni: nach Sigmaringen

  1. Linn Schöllhorn sagt:

    Liebe Marlis und lieber Joachim,

    was für schöne Zeilen über mein Hedingen und Sigmaringen. Es ist was besonderes, von “Dritten” seine Heimat beschrieben zu bekommen, die bei mir sofort die Sehnsucht nach dem mir so Vertrautem weckt. Ich bin froh, dass ihr eine schöne Zeit bei meinen Eltern hattet, die übrigens selbst ganz begeistert von Eurem Erlebtem sind. Ihr habt ein Stück weite Welt nach Sigmaringen gebracht und jeder der Sigmaringen kennt weiß, dass die weite Welt dort immer willkommen ist. Die Türen und Tore von Hedingen stehen Euch immer offen – ihr wisst ja jetzt, dass Platz genug da ist. Weiterhin viel Frohes und Schönes Euch und danke, dass ihr meinen Spuren gefolgt seid.

    Herzlichst und mit einer großen Umarmung
    Linn