29. April: nach Freudenstadt und Kniebis

nach Kniebis: mit der S-Bahn durchs Murgtal nach Freudenstadt mit Kurzstopp in Gernsbach, erster Ausflug auf den Kniebis (Ziel: Oliver Schäfer)

Wir starten schon um halb elf, wir wollen uns die Möglichkeit offenhalten, kurz nach eins den Bus von Freudenstadt nach Kniebis zu bekommen, der nächste geht erst drei Stunden später. Diesmal macht uns die Bahn einen Strich durch die Rechnung: S-Bahnen warten nicht, die Anschlüsse sind knapp, und der ICE nach Karlsruhe sammelt kurz vor Mannheim eine Viertelstunde Verspätung wegen einer Weichenstörung ein. Ich drehe alles hin und her: egal auf welchem Weg, rechtzeitig für den Kniebis-Bus in Freudenstadt anzukommen geht nicht; die direkte Bahn fährt eben nur stündlich. Das S-Bahn-System Karlsruhe ist übrigens in ganz Deutschland eine Besonderheit: die Züge sehen eher aus wie große Straßenbahnen und fahren in Karlsruhe und Heilbronn auch so mitten durch die Städte, können aber auch auf das Schienennetz der Bahn wechseln. Wir nehmen die nächste halbstündige S-Bahn dazwischen, die schon mal ins Murgtal bis Forbach fährt. Unterwegs recherchiere ich mit Wikipedia und den Karten auf meinem Handy, welcher Zwischenhalt am interessantesten ist und der Bahnhof nah genug an der Innenstadt. Heraus kommt Gernsbach, nach einer halben Stunde gehts dann weiter nach Freudenstadt. Der Zwischenstopp hat sich gelohnt: direkt an der historischen Altstadt, sehr authentische Mischung aus Sandstein, Fachwerk, Barock und Gotik mit Rathaus und alten Gebäuden direkt an der Murg. Auch die Fachwerk-Zehntscheuern sehen wir, von denen man offensichtlich nicht genau weiß, was man damit machen soll. Bei pünktlichen Zügen hätten wir das nicht gesehen! Leider hole ich mir dabei einen dicken Schmierfleck auf meiner neuen Outdoor-Hose, als ich beim Aussteigen aus der S-Bahn ein Fahrrad berühre, genau zwischen Kettenblatt und Ständer, bei bestens geschmierter Kette. Da werden zu Hause meine Fleckentfernungskünste gefordert sein, solange muss das warten. Die Fahrt mit der S41 von Rastatt bis Freudenstadt ist wirklich ein Erlebnis: sehr schöne Landschaft, zum Greifen nah: schmale Täler, manchmal sogar Schluchten, steile Hänge, eingleisige Tunnel, das alles sehr unmittelbar und auch mit Blick nach vorn über die Schulter des Fahrers, echter Straßenbahncharakter im S-Bahn-Tempo mit vielen Haltestellen. Wir lesen uns etwas in Freudenstadt ein: schon immer planvoll angelegt, am Ende des zweiten Weltkrieges niedergebrannt. Beim schon bis 1950 erfolgten gut geförderten Aufbau konnten sich Pläne nach der Heimatschutzarchitektur durchsetzen; so entstand der riesige quadratische Marktplatz, 216 x 219 m, der größte Deutschlands, wieder neu, umsäumt von Gebäuden mit schönen breiten Arkaden, die noch viele kleine Läden beherbergen. In einer Ecke des Platzes liegt die evangelische Kirche als eine von zwei Winkelkirchen in Deutschland, mit zwei Schiffen rechtwinklig zueinander, nur der Pfarrer konnte beide der früher getrennt sitzenden Geschlechter sehen. An der gegenüberliegenden Platzecke liegt das Rathaus, und mitten auf dem großen Platz sehr schöne Blumenbeete, allerdings durchkreuzt von dicken Straßen. Umliegend gibt es noch zwei Straßen, deren Häuser den Brand überlebt haben, weil man mit dem Inhalt der Abortgruben gelöscht hat. Dort stehen kleine Fachwerk-Giebelhäuser, die frontseitig mit kleinen Holzschindeln verkleidet sind. Nachdem wir uns mit Material aus der Touristinfo eingedeckt haben, nehmen wir den Bus nach Kniebis, den Ort, den uns Oliver Schäfer genannt hat: 1972 war er dort als Achtjähriger während eines Umzugs der Eltern für sechs Wochen in einem Kindersanatorium, was damals noch von den Krankenkassen bezahlt wurde. Wir haben von Oliver alte Schwarzweiß-Fotos vom Blick aus dem Fenster, die er damals aufgenommen hat, und eine Skizze aus dem Internet erhalten; die Anschrift haben wir von Anja Richmann vom Stadtarchiv Freudenstadt bekommen, außerdem eine Postkarte und eine Anzeige des Hauses,

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das damals unter der Leitung von Oberin Rochlitz stand, und einen Zeitungsartikel über den ärztlichen Leiter Dr. Stoßberg, der aus Recklinghausen stammte und noch nach Verkauf der Gebäude etwa 1976 lange als angesehener Land- und Kinderarzt in Kniebis wirkte. Das waren äußerst wichtige Informationen. Über die heutige Nutzung lag dem Archiv nichts vor, das erforschen wir heute. Allerdings gehörte früher der nördliche Teil von Kniebis zu Baiersbronn; erst 1972 ist Kniebis komplett zu Freudenstadt gekommen.
Der Busausstieg Kniebis-Dorf ist direkt am Anfang des Kohlwaldweges. Wir schauen uns zuerst die Busrückfahrzeiten und die Klosterruine am Forbach, an der wir gerade stehen, an. Aufwärts geht es den Weg hoch, mit Schild “Haus Kohlwald Kinderkur”, klingt nach Auflösung der Fragen. In der Gegend der Hausnummer 22 sehen wir nur Wiese, direkt danach stehen wir vor Wohnhausreihen und einem zehnstöckigen Appartmenthaus, beides hier ziemlich deplatziert, mit Nummer 30 bis 36. Wir sind wohl vorbei. Wir gehen den Berg ganz hoch bis zum Bebauungsende. Erst kommt ein größeres Haus “Waldfrieden am Kohlwald – Reha für Drogenabhängige”; wie wir bald erfahren, war das die Kinderkur der AOK Wiesbaden. Also weiterforschen. Am Waldrand treffen wir Stammgäste, die wissen schon mehr, und halten es für möglich, dass es ein “Tannenhof” unterhalb der Appartments gewesen sein könnte, und verweisen uns auf Alt-Anwohner, die Marlis auch gleich in ihrem Garten kontaktiert und interviewt. Die erzählen uns einiges über Kniebis als angenehmen Wohnort und den Fremdenverkehr, von dem der Ort überwiegend lebt. Die Position des Hauses wird bestätigt, wir machen uns also auf den Weg zurück und finden jetzt auch zurückgesetzt mit Eingang von hinten das Haus “Kohlwaldweg 20″ mit großem Holzschild “Tannenhof”. Das ist sicher die ehemalige Nr. 22, bei genauer Betrachtung sind Fenster und Giebel aus unseren Vorlagen noch zu erkennen. Nach hinten ist an- und weitergebaut worden bis zum früheren zweiten Haus des Kindersanatoriums. Dieser Umbau zu einer Appartmentanlage ist wahrscheinlich gleich nach dem Verkauf des Sanatoriums Ende der 70er Jahre geschehen, als auch die Ferienwohnungen weiter oben gebaut wurden. Wir haben es also gefunden, und beim Umrunden entdecken wir die Positionen und Blicke aus unseren Vorlagen, die sich durch Anbauten, Verlegung der Eingänge, neue Bäume und verfallene Zäune jedoch massiv verändert haben. Die Feuerwehr rückt zu einer Freitagabend-Übung an und reinigt mit großem Vergnügen Gullys und Solaranlagen. Wir sind zufrieden mit den Ergebnissen, passend fängt es an zu regnen. Wir haben noch etwas Zeit und sehen die evangelische Kirche von außen an. Da steht ein Schild: Geöffnet, besichtigen Sie unsere Osterstationen. Sehr schön sind mit kleinen Stofffiguren in handgeschneiderter Kleidung Szenen vom Einzug nach Jerusalem über Abendmahl, Kreuzigung und Erscheinung am See Genezareth dargestellt und in einem Begleitheft beschrieben. Zum Abschließen kommt Sabine Bohnet, eine der Initiatorinnen, die uns äußerst nett Erläuterungen zu den Darstellungen, der Kirche und dem Gemeindeleben gibt, und auch Vermutungen zur Holzsprungschanze aus Olivers Text hat. Dem werden wir morgen auf unserer Wanderung nachgehen. Der Regen ist vorbei, er hat die Blütenpollen zu ganzen Seen zusammengeschwemmt. Der Bus kommt, und in Freudenstadt gehen wir durch zwei nicht kriegszerstörte Straßen mit kleinen Giebelhäusern zum “Hotel Bären”, wo wir schwäbischen Wurstsalat und hausgemachten “Waldarbeiter”-Flammkuchen essen. Noch Postkartenschreiben und Prospekte blättern, dann schlafen wir ein.

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8 Antworten auf 29. April: nach Freudenstadt und Kniebis

  1. Andreas sagt:

    Da fällt mir doch noch was ein: Kannst du dich an das Essen erinnern? Es gab da immer solche komischen Tabletten zu jedem Frühstück!? Schmeckte irgendwie nach Kakao… Ich kann mich genau an den Geschmack erinnern, denn ich fand sie nicht soooo toll…
    LG aus Berlin
    Andy

  2. Anja Richmann sagt:

    Die Mitarbeiter des Stadtarchivs Freudenstadt freuen sich, dass sie helfen konnten. Das ist eine schöne Bestätigung unserer Arbeit als Archivare und das es auch in einem kleinen Ort wichtig ist, alles mögliche aufzubewahren, damit es dann in einer so schönen “Verpackung” dann wieder präsentiert werden kann.

    Eine tolle Idee, die Ihr hier verwirklicht und wir wünschen Euch noch tolle Entdeckungen und Erlebnisse.

  3. Oliver Schäfer sagt:

    Hallo Ihr zwei! Das habt ihr klasse ermittelt, das ist das Haus! Ich freue mich sehr, auch über die Archivinfos. Unter dem Dach gab es einen großen Schlafsaal (schräg). Unser 4er Zimmer war im ersten Stock. Und die Sprungschanze sehe ich bildlich vor mir. Natürlich kommt einem als Kind alles größer und eindrucksvoller vor. Es wurden anscheinend Anbauten vorgenommen und der Schweinestall ist weg (ja, wirklich Hausschweine). Ich hoffe ihr hattet trotz Pollen eine schöne Zeit. Viele viele Grüße Oliver

    • Andreas D. sagt:

      Hallo Oliver,

      ich war auch während der Sommerferien 1972 als 10 jähriger in dem Sanatorium.
      Leider kann ich mich nur Bruchstückhaft an diese Zeit erinnern, aber der Erker auf dem einen Foto ist mir gut bekannt, denn in diesem Zimmer hatte ich einmal Stubenarrest und hab mir damals beigebracht Kaugummiblasen zu machen ;)
      Ich hatte einen Kumpel, wie er hiess weiß ich nicht mehr, nur das er aus Mannheim kam. Als wir einmal alle miteinander im Freibad waren, saßen er und ich aus Protest auf einem Baumstamm und schauten den andern beim schwimmen nur zu :) )
      Und natürlich gab es auch ein Mädchen, sie hiess MIchaela, passend zu dem damaligen Hit von Bata Illic, den wir alle auswendig kannten ;)
      Ach, schön das es Internet gibt was die grauen Zellen manchmal richtig stimmulieren kann…
      Schade das es keine Fotos gibt von dem kleinen Bach in dem wir immer Staudämme gebaut haben, oder Bilder von den Erzieherinnen…
      Grüße aus Berlin
      Andreas

      • Oliver Schäfer sagt:

        Hallo Andreas,
        das ist interessant! Die Geschichte mit dem Staudamm habe ich auch noch in Erinnerung. An einen Schwimmbadbesuch kann ich mich nicht erinnern. Vielleicht weil wir erst acht Jahre alt waren. Von den Mädchen haben wir nichts gesehen. Die älteren Jungen waren im großen Schlafsaal untergebracht und hatten ein Monopoly-Spiel.
        Fotos gibt es leider nur sehr wenige, die Negative meines Filmes sind verschollen.
        Grüße aus Darmstadt
        Oliver

        • Andreas sagt:

          Hi, hab die Antwort jetzt erst gelesen, sorry!!
          Schade dass man so wenig in Erinnerung hat. Ich war 1972 bereits 10 Jahre alt, und da “blinzelt” man schonmal zu den Mädchen hin ;)
          An die Erzieherinnen kann ich mich gar nicht erinnern, nur an einen “Kumpel” aus Mannheim und Schemenhaft an den einen oder anderen. Schade!
          Trotzdem Danke für diese schöne Website :)

        • Alexander sagt:

          Hallo Oliver,
          ich wurde 1974 als Sechsjaehriger in den Laden gesteckt, und habe vor wenigen Tagen so intensiv davon getraeumt, als waere es gestern gewesen.
          Ich hatte einen absoluten Horror vor “Spitzkohl”, den ich trotz meiner Brech-Vorwarnungen aufessen musste. Vor Spitzkohl hatte ich am meisten Angst.
          Es gab in dem Gebaeude einen Raum, den man durch eine Art Klappe in der Wand erreichen konnte; es war irgendeine Abkuerzung. Allerdings wurde es bestraft, wenn man da durch kletterte. Irgend eine Erinnerung?
          Ich wuerde mich, nachdem alles wieder so praesent war, sehr fuer deine Fotos interessieren, wenn moeglich.
          Gruss Alexander

          • Oliver sagt:

            Hallo Alexander,
            gute Formulierung: “… in den Laden gesteckt.”
            An die Klappe kann ich mich leider nicht erinnern.
            Das Essen war für mich eine spezielle Erfahrung. Hier eine Liste was mir in Erinnerung ist: Marmeladenbrote ohne Butter, Kakao aus Kannen mit Haut (Horror), Cornflakes selten (mochten alle, aber ich nicht). Einmal gab es Salzhering. Den hat sich einer in die Hosentasche gesteckt und im WC versenkt. Das hat mich beeindruckt.
            Fotos habe ich nicht viele, weil die Negative weg sind. Vermutlich war es nur ein 12er Film.
            Grüsse Oliver