11. Februar: Weißenhorn

Fortsetzung Weißenhorn: Besuch Montessori-Schule, Claretiner-Kolleg, historisches Stadttheater

Gestern haben wir die Details von Bernhards Theaterspiel gefunden, heute gehen wir allen Spuren praktisch nach. Wir mit unserem Projekt sind hier mit hohem Interesse aufgenommen worden, entsprechend unerwartet voll präsentiert sich unser Terminkalender. Zwischen die Termine schieben wir abschnittsweise den Stadtrundgang und das Betrachten der Säulen zur Stadtgeschichte anhand der Flyer, in denen wir wieder die Handschrift von Wolfgang Ott, dem Leiter des Heimatmuseums, wiedererkennen. Beides finden wir sehr lohnend und vorbildlich: Entwicklungen, Stationen und geschichtliche Einbettung der Stadt werden knapp, aber präzise, vollständig und ohne Beschönigungen in anschaulicher und gestalterisch ansprechender Weise dargestellt.
Wir besuchen die Montessori-Schule, die es seit 2006 in den früheren Schulräumen des Claretiner-Kollegs gibt, und die sich laufend durch obere Klassen erweitert, so wie die Schüler älter werden. In jeder Klasse sind drei Jahrgangsstufen vereint, jede Klasse hat zwei Räume und eine Küchenzeile. Die Klassen haben sich jeweils eigene Regeln

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gegeben, und es gibt etwa zehn Dienste, die reihum immer von zwei Schülern wahrgenommen werden. Der Unterricht richtet sich nach den bayerischen Lehrplänen, jeder Schüler erhält Wochenpläne und verwaltet Tagespläne, bestimmt aber die Lerngruppe und aktuelle Lernthemen selbst. Jede Klasse mit max. 25 Schülern wird dabei von zwei Pädagogen betreut. Dazu gibt es noch Fachlehrer. Englisch wird ab der ersten Klasse spielerisch mit eingeflochten. Die Eltern arbeiten intensiv beim Ausbau der Schule mit. Es ist eine Ganztagsschule, es gibt keine Hausaufgaben. Alles geschieht ohne Noten, es gibt Beurteilungen. Nur für die Abschlüsse gibt es Übersetzungen in Noten. Bei Verpflegung und Veranstaltungsräumen arbeiten sie eng mit den Claretinern zusammen. Für die Schule dürften die freigewordenen Räume der Claretiner ein Glücksfall gewesen sein. Die private Initiative musste so nicht so viel investieren und konnte viel schneller mit dem Betrieb starten. Wir erleben auch noch Schulbetrieb; die Atmosphäre erscheint uns sehr angenehm und offen, und die Kinder äußerst motiviert.
Mittags treffen wir uns mit der Illertisser Zeitung. Der Kontakt stammt von der Schwabenbühne, die wir heute abend im Theater besuchen. Davor gelingt noch ein Blick in die Stadthalle, als wir Handwerker an der sonst geschlossenen Halle treffen. Noch einmal gehen wir zu den Gebäuden des Claretiner-Kollegs, diesmal treffen wir den Superior der Weißenhorner Bruderschaft, Pater Georg Hopf CMF (die Abkürzung des Ordens in der katholischen Welt: Cordis Mariae Filii – Söhne des Herzens Mariens). Bis 2002 haben die Padres hier die Internatsschule betrieben, an der Bernhard knapp zwei Jahre um 1965 als 13-jähriger war und immer mit der Bahn von Neustadt nach Weißenhorn fuhr, gerade noch bevor die Stichstrecke Senden-Weißenhorn stillgelegt wurde. Sie soll in den nächsten Jahren wieder für den Personenverkehr eröffnet werden. Die Claretiner sind ein aus Spanien stammender Missionsorden, der in Deutschland einige Standorte hat, und dessen Padres vor Ort meist in der Pastoralarbeit mitwirken, hier auch als Pfarrer in kleinen Gemeinden und als Religionslehrer. Der Standort hat seit den 60er Jahren einen gewaltigen Wandel durchgemacht und sich an heutige Verhältnisse angepasst. Seit 1988 wird mit der Diözese eine Jugendbegegnungsstätte betrieben, die sehr aktiv Freizeiten im kirchlichen Bereich durchführt. Der Schulbetrieb als Progymnasium (bis zur zehnten Klasse) mit Internat wurde bis 2002 aufrechterhalten, bis die schrumpfende Bruderschaft diese Aufgabe nicht mehr leisten konnte.

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Von Bernhard haben wir noch ein Zeugnis und eine Rechnung der Schule von damals bekommen. Nach der Zwischennutzung durch ein örtliches Gymnasium kam dann die Montessori-Schule. Wir sehen alles: die alte und die neuere Turnhalle, Schlafsäle und Schlafräume, Waschräume, Spinde auf dem Flur, heute neu strukturierte Zimmer für die Gäste der Jugendbegegnungsstätte und auch andere Bereiche, die noch auf einen Umbau und eine neue Nutzung warten. Es gibt Aufenthalts-, Studier- und Meditations- und Speiseräume sowie eine große Küche, die für die Padres, die Begegnungsstätte und die Schule, kocht. Beeindruckend ist die neu gestaltete herzförmige Kapelle. Sie ist zur vielfältig nutzbaren Veranstaltungshalle umgebaut worden, mit allen Medienanschlüssen und Einbauten. Konzerte, Seminare, Vorträge und Kirchenbetrieb sind möglich. Die Spitze ist mit Vorhang abgetrennbar als Kapelle für die aktuell acht Padres. Auch die Schule nutzt den Raum. Die ganze Umnutzung und auch die Zusammenarbeit der Nutzer erscheint uns als eine beispielhafte Synergie.
Wir beenden den Stadtrundgang und haben dann im Stadttheater eine Verabredung mit dem Hausmeister. Das Gebäude ist die Zehntscheuer der Fugger aus dem 16. Jhd., im 19.Jhd. wurde sie frei, und um 1876 konnten sich ein Theaterverein und die Kolpingbrüder durchsetzen, und das Gebäude wurde zum Theater umgebaut: 100 Plätze unten, 45 Plätze oben auf einer umlaufenden Empore und eine Bühne mit etwas Technik, rote Polster, graues Holz mit Bemalung und Deckengemälde, beschriftete Eingänge. Dahinter noch der Versammlungsraum von Kolping. Das Erdgeschoss unter dem Theaterrraum war früher Schuppen für Feuerwehr und Segelflieger. Nach der Sanierung 1976 wurde daraus ein richtiges Foyer mit Garderobe, seitdem wird es regelmäßig bespielt: Von Mundartkomödien bis Kammeropern geben regionale freie und feste Theater Gastspiele. Wir können alles betrachten und hinter die Kulissen schauen.
Sehr angeregt unterhalten wir uns mit dem 2. Vorsitzenden der Schwabenbühne Illertissen, Wolfgang Tupeit, der uns Karten für heute abend zurückgelegt hat, und sich mit vollem Engagement um seine Gruppe kümmert: von Online-Eintrittskarten über alle sozialen Netzwerke bis zum Jahresheft und dem Kartenverkauf an der Kasse. Im neuen Jahresheft will er uns drinhaben und fotografiert uns auf der Bühne. Es folgt das Theaterstück: “Der Raub der Sabinerinnen” in schwäbischer Mundart mit zwölf Darstellern. Es ist ein echter Genuss: jeder Zuschauer hat einen guten Platz – auch mit Sicht auf alle anderen Zuschauer. Der Stoff mit heftigen Verwicklungen, Ausreden-Konstruktionen und Missverständnissen, die sich alle am Ende auflösen, wird engagiert und sehr lustig gespielt. Man merkt, wieviel Spaß auch die Zuschauer dabei haben. Und das drei Stunden lang für einen Einheitspreis von 9,50€! Ein Theatererlebnis der besonderen Art für Großstädter, die riesige, teure Profi-Theater gewohnt sind. Wir lassen den Abend im Gasthaus unseres Hotels zum Löwen ausklingen. Hier hat alles gestimmt und zusammengepasst: großes helles ruhiges Zimmer mit Sicht, Schreibtisch für zwei, Sitzecke, gutes Essen, sehr aufmerksames Personal und eine Leitung, die sich noch ausgesprochen stark für unser Projekt interessiert hat.

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2 Antworten auf 11. Februar: Weißenhorn

  1. Meine lieben Deutschland-Reisenden!

    Nun ist es also vollbracht. Unser gemeinsames Erinnerungsprojekt WEISSEHHORN ist von Euch perfekt umgesetzt worden. Ich habe am tiefen Grunde meines 13. Lebensjahres herumgerührt und versuche immer noch das Vergangene mit dem gegenwärtigen Rechercheergebnis zu verstöpseln. Ein altes verschollenes Zeugnis und die Kolleg-Rechnung im Internet – das ist „Futurecrime“ hoch drei. (Gestern noch undenkbar)
    Im Grunde habt ihr für mich diese Reise gemacht. Denn ich war zu faul oder nicht willens, die Spuren und Wege einer längst vergessenen Zeit hervorzuholen. Euer Projekt Bahn-Zeit-Reise
    war für mich genau das Richtige – Erinnerung hervorzuholen, aber die Nähe nicht so eng heranzuzoomen, dass sie beginnt, weh zu tun. Gott sei Dank habt ihr angedockt an meine Vergangenheit und interessante Erlebnisse und Erkenntnisse in der Jetzt-Zeit gewonnen. Eure Unbefangenheit hätte ich nie gehabt. Zu sehr waren hier religiöse Fäden spinnennetzartig gezogen über eine schwerwiegende Zeit eines Internatsaufenthaltes in tiefer, religiöser Indoktrination. So war Weißenhorn auch nicht unbedingt ein Ort der Sehnsucht, sondern eher ein Ort der Mahnung und der nachhaltigen Erinnerung. Das ich nun perfekt über dieses Singspieltheater DER SPIELHANSL informiert bin und jetzt jedem, der es hören will haargenau erzählen kann, (wie – wer) was (warum) damals rund um meinen ersten Theaterauftritt geschah, verdanke ich ganz allein Euch und eurem wunderbaren Projekt. Ganz viel Erfolg und positive weitere Erlebnisse wünsche ich Euch auf all Euren weiteren Reise-Wegen.
    Und noch mal danke für die Schokolade aus Weißenhorn und den 850-Jahre-Sekt, ebenfalls aus Weißenhorn!
    Liebe Grüße
    Bernhard Wadle-Rohe

  2. Gabriele Heck sagt:

    Mich würde interessieren: Wie finden denn die Kinder Ihre Montessori-Schule?
    Habt Ihr auch mit den Schülern gesprochen?