7. Januar: Prora und Sellin

Strandwanderung nach Prora und durch die KdF-Ruinen, Führung im Dokumentationszentrum, Sellin (Ziel: Horst + Martina)

Marlis hat sich leider eine hoffentlich leichte Erkältung eingefangen, so geht der erste Gang in die Apotheke. Dafür sind wir etwas früher unterwegs. Heute kommt ein Ort, der uns interessiert: die KdF-Bauten von Prora, die von Binz per Strandwanderung zu Fuß zu erreichen sind. Außerdem gibts dabei ordentlich frische Luft. Das Wetter ist natürlich kein Vergleich zu gestern: auf den Straßen und Wegen hat es getaut, besonders, wenn Salz im Spiel ist. Die weiche Schneeschicht von gestern ist durch den Regen komplett verschwunden, dafür tritt an vielen Stellen Eis zutage. Die Strandwanderung ist heute eher grau, der Sand hart mit Eis überzogen, am Wasserrand sind Muschelstücke eingelagert. Nur am Wassersaum, wo zwischen den Eisschollen Schnee und Eis verharscht sind, lässt sich rutschfrei gehen. Nur Marlis kann die “Autobahn” benutzen: ihr gehört mit ihren Schuhspikes der ganze Strand, und sie kann beim Laufen in die Luft gucken. Nach einer Stunde biegen wir in die Düne ab und durchqueren den Kiefernstreifen. Wir kommen genau am südlichen Ende von Prora an, hinter uns das wohl aus den drei Jahren Bundeswehr-Präsenz übrig gebliebene “Bundeswehr Sozialwerk” mit Campingplatz. Wir wandern an 500 Meter langen, 6 Stockwerke hohen Komplexen in einer Schneespur entlang. Jeder hat nach hinten zehn gewaltige Treppenhausriegel, in denen auch die Gemeinschaftsduschen und andere Versorgungseinrichtungen, sogar Fahrstühle vorgesehen waren. Alle Zimmer sind auf der Ostseeseite mit Meerblick als Doppelzimmer ausgelegt, mit Schrank, Waschbecken, Betten und einer Sofa-Sitzecke am Fenster. Die Rückseite ist nur Flur, dafür aber mit vielen Fenstern. Zwei Abschnitte in jedem Block sind als beheizbare Liegehallen mit großen Fenstern für ganzjährige Urlaubsnutzung vorgesehen gewesen. Der Bau der Anlage begann 1936. Die Nationalsozialisten wollten hier subventionierte 10-Tages-Urlaubsangebote für gleichzeitig 20.000 Menschen schaffen. Noch vier weitere solcher Anlagen waren an der Ostseeküste geplant. Alle acht Wohnbauten auf Rügen wurden bis zum Krieg nahezu fertig, von den zentralen Einrichtungen zwischen den Komplexen mit Restaurants für jeweils 1200 Personen sind nur einzelne Kellergeschosse erbaut worden, und von der symmetrischen, 700 m breiten Zentralanlage in der Mitte des 4,5 km langen Riegels wurde nur der rechte Komplex mit Theater, Empfangsgebäude und Verwaltung sowie die Kaimauer am Ostseestrand einigermaßen fertig.
Hinter der riesigen Mauer sind aber nur Dünen, von der Promenade und den zwei langen Seebrücken (u.a. für die “Wilhelm Gustlow” vorgesehen) ist nichts entstanden. Auf den Ruinen wächst die “meistfotografierte Birke Rügens”. Auch für die Festhalle für 20.000 Besucher und das 80m hohe Turmcafé sowie die Versorgungs-Infrastruktur blieb es beim Plan. Die Baukapazitäten und die KdF-Aktivitäten wurden mit Kriegsbeginn verlagert, die Fertigstellung auf die Zeit nach dem “Endsieg” verschoben. Binz ist allerdings durch den Bau zu seinem Großbahnhof gekommen, die Bahn wurde schon für die Materialtransporte gebraucht. Ein Urlauberzimmer ist nie eingerichtet worden. Nach dem Krieg entnahmen die Sowjets Materialien als Reparationen, am südlichen Block durften sich die Inselbewohner mit Baumaterial versorgen, er wurde dann ganz abgerissen, auch von den zwei nördlichen Blöcken gibt es nur noch Teile als Ruinen. Danach waren einzelne Jugendlager dran. Die NVA hat einige Blöcke als Kaserne genutzt; zu DDR-Zeiten war die ganze Nehrung zwischen Sassnitz und Binz gesperrt. Eine nach der Wende von der DDR gegründete Stiftung konnte ein heute noch bestehendes Dokumentationszentrum einrichten, das neben Prora und den KdF-Aktivitäten auch die Hintergründe der sozialen Konzepte des Nationalsozialismus beleuchtet. In diesem Zentrum haben wir eine sehr informative Führung von Sabine Sakuth mitgemacht und einen Film über die Entstehungsgeschichte gesehen. Der ganze Komplex ist wirklich im wahrsten Sinne des Wortes unheimlich beeindruckend. Nicht umsonst nennt das Dokumentationszentrum seine Ausstellung “MACHTUrlaub”. Ansonsten ist von den Privatisierungsaktivitäten noch ein offenes Museum übrig geblieben, das sich zu 80% der NVA in Prora widmet und uns eher den Eindruck einer Militaria-Sammlung vermittelt, mit vielen bunten, aber nicht besonders hintergründigen eingeschweißten Textplakaten. Im obersten Stock gehört dazu ein an dieser Stelle eher unplatziert wirkendes “Wiener Kaffeehaus” mit Selbstbedienung und Ostseeblick. Alle anderen Museumsversuche haben aus verschiedensten Gründen nicht überlebt. Nur eine Großdisko und die Beschäftigungs-Agentur Rügen sind noch im Hauptgebäude. Der ganze Komplex steht unter Denkmalsschutz und mittlerweile sind alle Teile verkauft. Im Sommer soll in einem Drittel des nördlichsten Blocks wieder eine Jugendherberge eröffnen, und ein auf einem Block in großen Plakaten angekündigtes Hotel- und Eigentumswohnungsprojekt soll mit dem Umbau beginnen. Man wird sehen. Sicher ist nur: Der Strand ist lang und man versenkt erstmal ordentlich Geld, der Erfolg ist ungewiss. Jetzt jedenfalls ist meist nur noch die Rohbausubstanz vorhanden, Fenster sind, soweit vorhanden, meist eingeschlagen, das untere Stockwerk verrammelt, nutzbare Installationen sind nicht mehr vorhanden, und an den Fassaden sind etliche Putz- und Feuchtigkeitsschäden zu sehen.
In der Dunkelheit stapfen wir dann zur Hauptstraße und fahren mit dem Bus nach Sellin. Dort gehen wir die fast ausgestorbene Prachtstraße Wilhelmstraße entlang, bergauf gesäumt von vielen großen Villen. Auf dem Weg merken wir uns ein Restaurant. Am Ende der Straße blicken wir von der Steilküste hinunter auf den Strand und die romantisch beleuchtete Seebrücke, auf der gleich am Anfang mit einem Restaurant im Bäderstil steht. An der Spitze ist mittlerweile eine Tauchglocke für Touristen installiert. Die Seebrücke in Sellin haben uns die Ideengeber Horst und Martina mit auf den Weg gegeben, allerdings bei Sonne im Sommer – da ist sie weiß, hell und unbeleuchtet.
Der gebratene Boddenzander in der “Kajüte” ist hervorragend und preiswert. Der Bus fährt pünktlich zurück. Im Hotel beende ich diesen Text, den ich beim Bier begonnen habe.

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