21. Oktober: Bildechingen

Stuttgart 21 auf dem Weg nach Horb, Wanderung nach Bildechingen auf den Friedhof (Ziel: Julia), Kirchenführung mit der Küsterin

Endlich geht es wieder los, ich konnte den Reisestart schon gar nicht mehr abwarten.
Das Kofferpacken am Vorabend geht mir schon leichter von der Hand.
“Reisen macht süchtig” schreibt Klaus Kufeld in seinem Kommentar – ich bin es jetzt schon.
Wir rennen mal wieder, um die S-Bahn vor unserer Haustür in LU-Mitte zu erreichen, da gibt es noch Verbesserungsmöglichkeiten!
Heute hat das Reiseabenteuer erst so richtig begonnen, denn nach Horb am Neckar, genauer nach Bildechingen, wären wir ohne Julias Erinnerungsort wohl nie gekommen! Nach Köln reisen kann jeder, das fällt einem schon eher ein (allerdings kaum Köln-Ehrenfeld).
In Stuttgart erreichen wir wegen 8 Minuten Verspätung nicht unseren Anschlusszug nach Horb am Neckar. Darüber sind wir gar nicht traurig, denn für Stuttgart 21 vor Ort interessieren sich nicht nur wir, auch Katharina und andere hatten nachgefragt – Bahnfahren für ein Jahr ohne Auseinandersetzung mit diesem Großprojekt geht nicht! Auf den Gleisen und in der Bahnhofshalle wirkt alles so wie immer, aber das ändert sich, als wir zum Nordausgang gehen: neben Gleis 1 scheint es ziemlich offen, da steht ein Bauzaun, und ein Security-Herr beobachtet uns beim Fotografieren. Draußen, wo bisher der Nordflügel stand, empfängt uns ein langes Gitter, behängt mit teils sehr persönlichen Statements, samt vieler Menschen, die diese Mitteilungen lesen, und ein Infozelt. Am Hauptgebäude fällt der Anschluss des abgerissenen Flügels wenig auf. Direkt vor dem Hauptbahnhof auf dem Mittelstreifen sehen wir einen großen Blumenschmuck mit Kerzen, wohl ein Verkehrsunfall. Am Schlossgartenflügel im Süden angelangt, beeindruckt uns die Größe des Flügels, der abgerissen werden soll. Das Gebäude sieht so aus, als steht es schon länger leer. Im Schloßgarten erkennen wir, nur aus der Ferne betrachtet, einige Zelte und Protestwände entlang der gefällten Bäume.
Wieder im Zug: die Zeit im Schweizer IC mit herrlich schwiezerdütsch sprechendem Begleitpersonal vergeht so schnell, dass wir fast den Ausstieg in Horb am Neckar verpassen. Am gegenüberliegenden Bahngleis steht eine rote “Kulturbahn” – was es so alles im Ländle gibt. Auch hier ist eine Bahnhofsbaustelle – am Zaun wird für die Teilnahme am Protest gegen Stuttgart 21 geworben.
Die Stadt Horb empfängt uns romantisch mit Dorfmitte samt Kirche am gegenüberliegenden Berghang mit einem so kleinen Neckar, dass wir das zuerst für irgendeinen Bach halten, aber dann eines besseren belehrt werden. Wir haben wieder schönes Herbstwetter.
Das neu renovierte Hotel Goldener Adler liegt an der stark befahrenen B14 Richtung Stuttgart, unser Zimmer zum Glück nach hinten raus. Wir sehen auch im weiteren Verlauf des Tages sehr viele große LKW’s auf den Landstraßen.
Bevor wir zu Julias besonderem Ort, dem Friedhof in Bildechingen aufbrechen, statten wir noch dem ansehnlichen bergigen Ortszentrum samt Kirche einen Besuch ab, samt Café Kipp mit Sonnenterrasse hoch über dem Neckar.
Nun geht es über mehr als vier Kilometer, zumeist bergauf, vorbei an Vororten mit Einfamilienhäusern, über Gewerbeparks mit Baumärkten und Kreisverkehren, endlich hinaus aufs freie Feld, schon mit weitem Blick auf Bildechingen. Bei einem Wegkreuz zwischen zwei Bäumen – Naturdenkmal! – nehmen wir die direkte Blickachse zur Wallfahrtskirche “Zur schmerzhaften Mutter Gottes” (das erfahren wir erst später von der Küsterin) wahr, die direkt am Friedhof steht. Schafe grasen auf der Weide. Bildechingen wirkt verschlafen, leer und hatte früher sicher mal viele landwirtschaftliche Betriebe. Ein großer leerer Linienbus ohne erkennbares Ziel kreist herum. Ohne Mühe finden wir den Friedhof, auf dem Julias Großeltern ihre letzte Ruhe gefunden haben. Von hier aus geht der Blick weit “über die freie Landschaft”, ganz so wie Julia es beschrieben hat. Wirklich ein “ganz besonderer Ort”, der sich uns heute im buntem Herbstlaub und abendlicher Sonne zeigt. Auf der Grabsteinkante liegen viele Steine, auf den anderen Grabsteinen nicht. Ich lege eine Blume dazu.
In der am Friedhof liegenden Wallfahrtskirche treffen wir die Küsterin, die uns in schwäbischem Dialekt die Kirche und den direkt angegliederten Neubau von 1962, eine Doppelkirche, die auch zusammen genutzt werden kann, erklärt. Sie kannte sogar noch Julias Großeltern persönlich, was für ein Glück! Sie erklärt uns auch, wie es zu dem Ortsnamen kam, mehr kann man sich gar nicht wünschen. Und sie ließ sich sogar noch per Sprachaufzeichnung ausgiebig interviewen. Ich bin restlos glücklich, auch darüber, dass ich den Mut aufgebracht habe, sie dazu zu überreden.
Und jetzt kommt Joachims Glück: der Rückweg bei untergehender Sonne und niedrigen Temperaturen hätte sich noch weit über eine Stunde ausgedehnt, wenn da nicht die Bushaltestelle “Rathaus” in der Ortsmitte gewesen wäre. Joachim geht vor, studiert den Plan: alle ein bis zwei Stunden einer, er liest den nächsten: 17:25, schaut auf die Uhr: 17:25, dreht sich um – da steht der Bus, er hat sich angeschlichen. Er nimmt uns als einzige Fahrgäste gerne auf und läßt uns in der Ortsmitte Horb wieder raus. Auf den Fahrpreis gibt’s sogar Bahncard-Rabatt. Joachim bekommt einen zufällig entdeckten, als absolut wasserdicht angepriesenen, hier handgearbeiteten Filzhut für unser weiteres Reisejahr verpasst, Foto im Einsatz folgt. Der Panama-Hut kann also für den Winter zu Hause bleiben.
Beim Zwiebelrostbraten im Goldenen Adler zum Abend ist die lautstarke Diskussion einer schwäbischen Altherrenrunde über Stuttgart 21 unüberhörbar.
Das Hotel gefällt uns, es ist sehr stimmig und designorientiert eingerichtet.
Julia, wir danken dir für diesen ereignisreichen Tag!

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2 Antworten auf 21. Oktober: Bildechingen

  1. marlis jonas sagt:

    Lieber Hans-Uwe,
    mein Kompliment, du bist schon gut im Aufspüren von Lücken!
    Da ich mich nicht nur auf die Aussage der Küsterin verlassen wollte, habe ich im Internet recherchiert, bin aber nicht so richtig fündig geworden. Die Echinger waren ein Geschlecht, dem der Ort gehörte, und die erstmalig im 13. Jahrhundert erwähnt wurden. Das “Bild” stammt nach Aussage der Küsterin von der Marienstatue an der Außenwand der Wallfahrtskirche „Zur Schmerzhaften Mutter Gottes“, die ein originelles Dach drüber hat. Aber alles ohne Gewähr, vielleicht sind das auch nur Legenden…

  2. Hans-Uwe Daumann sagt:

    “Bildechingen” klingt irgendwie literarisch. Ihr habt es nicht verraten: Woher kommt der Name?