26. September: über Senftenberg zurück

Senftenberg: zweieinhalb Stunden Rundgang und Spurensuche (Ziel von mir), Rückfahrt nach Ludwigshafen

Morgens verabschieden wir uns im Hotel. Das Zimmer war etwas größer als die einfachsten, aber nicht besonders ausgestattet, der Preis war im Vergleich hoch, das Frühstück ok, aber nichts besonderes, höchstens die Spreewaldgurken und der Kürbis. Auch die Bedienung ist hier etwas rustikaler. Marlis sagt das dem Hotelier, der reagiert etwas ungehalten und arrogant; seine Argumente gelten für andere, preiswertere Gegenden viel stärker. Aber Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis, offensichtlich – wir haben es erlebt – ist der Spreewald sehr beliebt, und das Hotel liegt an der Anfahrtstraße zu den Kahnhäfen ganz in der Nähe der Parkplätze, also extrem günstig. Als wir dann gehen, merkt der Hotelier, das er wohl etwas übertrieben hat, und schenkt uns eine Packung Spreewaldgurken, immerhin! Heute ist es warm, der Himmel blau, so kommen wir nach Senftenberg, ein Ziel von mir, der zweite Ort, wo ich nach der Wende eine komplette Datenverarbeitung in einem Getränkebetrieb installiert habe. Heute morgen habe ich recherchiert und bin auf eine Seite mit den Getränkekombinaten in der Gegend gestoßen: VEB Getränkekombinat Cottbus, darin VEB Getränke Senftenberg, Betriebsteil I Abfüllbetrieb Spremberger Str. 15, und Betriebsteil II alkoholfreie Getränke Briesker Str. 15 (vormals A. Braunwarth & Sohn KG, Fabrik alkoholfreier Getränke und Biergroßhandlung, 1976 enteignet). Der zweite Teil kommt mir bekannter vor, auf dem Stadtplan hatte ich die Straße schon vorher ins Auge gefasst, auch der Name Braunwarth könnte der der Inhaber nach der Wende gewesen sein. Damals war Senftenberg vom Braunkohleabbau in der DDR geprägt und schwer dreckig; anderes habe ich nicht mitbekommen. Beim Recherchieren bin ich auf viele neue Aspekte gestoßen, das fließt in den folgenden Bericht ein. Der Bahnhof ist groß und behindertengerecht, aber komplett leer, dafür ist davor ein Servicestore, der auch ganz offiziell Gepäckaufbewahrung macht. Als erstes suchen wir den Betriebsteil I auf. Dort erkennen wir gleich einen Hof voll Getränkekisten und ein modernes Gebäude, Getränkefachgroßhandel Schenker. Die Dame an der Pforte kann uns einiges erklären: Schenker hat das gleich nach der Wende übernommen und erweitert, ich kann mich hier an nichts erinnern, auch nicht die Straße, wir kommen überein, dass es der andere Betriebsteil sein muss, an dessen Stelle jetzt ein Pitstop stehen soll. Ich habe vom Theater “Neue Bühne” gelesen und vom Bauhaus-Schulgebäude, beides ist am selben Platz in der Rathenaustraße auf dem Weg in die Innenstadt, das steuern wir zunächst an. Und: der Komplex ist von Bruno Taut gebaut, der uns schon in Hiddensee mit dem Karusel begegnet ist. Das Theater hat die Stadt dem sowjetischen Stadtkommandanten zu verdanken, der nach dem Krieg eine aktive Laienschauspieltruppe der Bergarbeiter vorgefunden hatte, und ihnen die Turnhalle der Rathenauschule aus Spielstätte zugeordnet hat. Daraus ist in der DDR ein Dreispartentheater mit professionellen Schauspielern geworden, nach der Wende konnte nur noch die Sparte Schauspiel erhalten werden; Senftenberg ist damit die kleinste Stadt Deutschlands mit einem Stadttheater mit eigenem Ensemble, erzählt uns der technische Direktor, den wir auf dem Theatergelände treffen. Er zeigt uns die Bühne mit dem 250 Plätze fassenden Zuschauerraum, und das noch begeisterter, als er von unserem Projekt erfährt. Die Truppe spielt von 400 jährlichen Aufführungen über 100 auf anderen Bühnen, auch in Süddeutschland und der Schweiz. Viele namhafte Schauspieler haben hier gelernt. Er erzählt von der umfassenden Konversion in der Stadt von der Braunkohle weg zu neuen Technologien und Tourismus, die hart war und ist und einen deutlichen Einwohnerschwund gebracht hat; insgesamt sei sie aber gut gelungen und die Stadt heute ausgesprochen lebenswert. Das finden wir beim weiteren Durchgehen ebenfalls: Die Bahnhofstraße ist ungewohnt belebt und gut saniert, fast alle Läden sind besetzt und von besserem Niveau, die Stadt sieht einladend aus und ist gut beschildert. Fast alle, denen wir begegnen, strahlen Selbstbewußtsein und Offenheit aus, das spricht für das Lebensgefühl hier. Die Briesker Straße 15 kommt mir bekannter vor, auch wenn dort der Pitstop steht; das Straßenbild passt eher, das Wohnhaus Braunwarth steht noch, wenn auch anders gestrichen und Anwaltskanzlei Braunwarth. Vom Betrieb steht nichts mehr; in der rückseitigen Sackgasse, die als Braunwarth-Anschrift ausgewiesen ist, treffen wir Frau Höna, die hier ein Elektrogeschäft betreiben, sie erzählt uns, dass die Braunwarths es noch kurz mit dem Betrieb und den alten Maschinen versucht haben, das Gelände aber bald verkauft haben, nachdem klar war, dass die Einzelhandelsketten ihre Getränke nicht listen würden. Die Braunwarth-Nachkommen sind über ganz Deutschland verteilt, an einem Getränkemarkt weiter hinten in der Straße ist noch einer beteiligt. Auch sie berichtet von der positiven Entwicklung der Stadt; unsere Zeit wird knapp, wir hätten uns gern noch länger mit ihr unterhalten. Durch die gut erhaltenen Plattenbausiedlungen gehen wir in die Innenstadt, der kleine runde Innenstadtkern ist malerisch, besonders um den Markt, auch hier steht eine Postmeilensäule aus dem 18. Jahrhundert wie in Lübbenau, nahezu alles ist saniert, sogar in den Hinterhöfen, die Läden sind ansprechend, die Stadt ist für Montag mittag gut belebt. Nach unserem Eindruck ist das die in sich stimmigste und funktionierende Kleinstadt im Osten, die wir gesehen haben, dabei hatten wir gar keine Zeit, die touristischen Ziele wie das Schloss und den 13 km² großen See anzusehen. Der Besuch ist eine Überraschung, das hatte ich nicht erwartet. Ein wenig Angst haben die Bewohner allerdings wegen des steigenden Grundwasserspiegels nach Beendigung des Braunkohlentagebaus; der füllt zwar ihren See, vielleicht aber bald auch ihre Keller. Die recht knappen Bahnanschlüsse in Falkenberg und Leipzig klappen gut, wir fahren durch Naumburg, das letzte Ziel unserer Ideengeber, das auf der letzten Fahrt drankommt, und das Weingebiet Saale-Unstrut, eine schöne Landschaft. Irgendwann bemerken wir, dass an der Tischgruppe links ein guter Bekannter aus Ludwigshafen sitzt, wir begrüßen uns herzlich. Mit dem Beginn von Hessen dämmert es, reibungslos kommen wir von dieser vorletzten und längsten Reise wieder in Ludwigshafen an.
Diese erstaunlich häufigen Begegnungen reißen nicht ab; zwei Tage später auf dem Weg zur Arbeit nach Frankfurt nimmt unsere Ideengeberin Yvette, die schon einige Kommentare geschrieben hat, ihre Reservierung nach Berlin neben mir ein.

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Eine Antwort auf 26. September: über Senftenberg zurück

  1. Gabriele Heck sagt:

    “Zufall” = “erstaunliche Begegnung”?
    (siehe einen meiner letzten heutigen Kommentare zuvor)