7. Oktober: von Bärenstein nach Görlitz

Bärenstein: Besuch beider Betriebsstellen der ehemaligen Früchteverwertung, Fahrt nach Görlitz und erster Stadtrundgang

Wir hatten mit dem Hotel vereinbart, dass wir zum Bahnhof gefahren werden, daran kann man sich nicht so erinnern und sagt, man hätte viel zu tun, das ginge eigentlich nicht. Wir gehen zu Fuß in den Ort, bestehen aber darauf, dass das Gepäck zu einem bestimmten Zeitpunkt im Fremdenverkehrsbüro steht, das klappt dann auch. Man ist sehr auf Sauberkeit bedacht, sogar während des Frühstücks wird der Boden gewischt. Der Umgang mit dem Gast ist also gar nicht serviceorientiert, wir sind wohl eher ein Übernachtungsfall, vor 21 Jahren ist mir das öfter begegnet. Da gehen wir lieber woanders hin, auch wenn hier alles einigermaßen funktioniert hat. Wir steigen zunächst auf den Turm und genießen die Aussicht über den Wald auf die Kegelberge und in die Täler. Beim Abstieg sehen wir nochmals deutlich die einfachen Strukturen und Gebäude, die hier stehen. Hier in dieser abgeschiedenen Randlage besteht offensichtlich kein Hang zum Repräsentieren, und Oberwiesenthal strahlt hierhin wohl kaum aus, höchstens mit Wanderwegen. Heute ist es durch die Grenzöffnung nicht mehr so eng, Weipert auf tschechischer Seite hat allerdings keine bessere Ausstrahlung. In einem so engen Tal fallen die Industrieruinen, alte Schornsteine und große, ungenutzte Bahnhöfe besonders störend auf, sie drücken für uns als Gäste geradezu die Stimmung, während sich die Einwohner sicher dran gewöhnt haben und eher die langsamen positiven Veränderungen wahrnehmen.
Wir gehen zunächst Richtung BT2 der Früchteverwertung. Wir finden ihn an der Annaberger Straße direkt am Ortsausgang am steilen Hang. Der talseitige Teil des langgestreckten Gebäudes ist eingerissen, alles ist eingezäunt und Auffahrt und Gebäude verfallen. Meine Erinnerung sagt: hier war ich bestimmt nicht. Wir gehen zurück zum Standort des BT1, davon wissen wir jetzt mehr und gehen die Wiese hinauf. Dort finden wir noch asphaltierte Wegstrukturen im Gras und spärliche bauliche Reste. Beim Blick von oben hinunter kann ich mir vorstellen, wie rechts das quadratische kleine Verwaltungsgebäude, links am Hang die Produktion und unten gegenüber der Straße auf dem jetzigen Supermarkt-Parkplatz die Sammlung an IFA-Lastwagen als Ersatzteillager gestanden hat. Hier war es also, vor 14 Jahren wurde alles abgerissen. Ich habe damals schon gedacht: ob diese Betriebe gerade in der Branche je eine Chance haben? Die Technik vollkommen veraltet und dauernd kaputt, die Gebäude in schlechtem Zustand und wenig optimiert, viel mehr Personal als im Westen, eine viel höhere Dichte an Produktionsbetrieben und ein Handel, der vom Westen bestimmt wird: eigentlich ein Neuanfang mit Altlasten. Wir überblicken noch einmal den Ort, halten beim Gepäckabholen einen Schwatz mit Frau Richter von der Touristen-Info und bedanken uns fürs Aufbewahren. Wir steigen wieder in Tschechien ein, mit noch einem Fahrgast. Mit zwei kurzen und bequemen Umstiegen in Flöha und Dresden kommen wir nach Görlitz, der östlichsten Stadt Deutschlands, vor dem Krieg eine Stadt mit Zgorzelec auf der anderen Neißeseite in Polen und zu Schlesien gehörend. Die RE-Züge in dieser Gegend sind auf den kurvigen Hügelstrecken alles Neigetechnik-Dieseltriebwagen, das gibt oft ungewöhnliche Aussichten. Der Bahnhof ist innen belebt und in gutem Zustand mit sehr schöner Jugendstil-Hallendekoration. Vor dem Bahnhof, der über einen Kilometer südlich des historischen Zentrums liegt, ist fast alles sanierungsbedürftig, leerstehend oder in Sanierung, nach erneuter Gebietsreform und einem neuen Landkreis Görlitz wird hier ein ganzer Komplex zum Landratsamt. Es gibt noch zwei Straßenbahnlinien, wir fahren die Bahnhofstraße entlang, die von sanierungsbedürftig in Einkaufsstraße übergeht. Im Zentrum, am Demianiplatz, steigen wir aus.
Der Weg zum Hotel mitten im Zentrum ist kurz, wir laden ab und suchen erstmal ein Café. Von dort aus steuern wir die ersten Ziele an. Das Jugendstil-Warenhaus wurde von Hertie betrieben und ist leider geschlossen; im Erdgeschoss ist noch eine Parfümerie, so dass ein Blick auf die Galerien und die Lichtkuppel möglich ist. Hoffentlich findet sich wieder ein Betreiber, das Gebäude wäre es wert. Wir werfen einen Blick in die kreisrunde Kaisertrutz, das Wahrzeichen der Stadt, Kulturhistorisches Museum und Hauptort der sächsischen Landesausstellung zur Via Regia, der alten Handelsstraße, auf die wir verzichten, dafür ist unser einer Tag hier zu wenig. Bewusstes Weglassen kam im Reisejahr öfter vor, wir wollten ja viele Eindrücke gewinnen, da fiel bei Städten manche Sehenswürdigkeit weg, so auch in Bad Kösen die Plüschtierwelt der Spielzeugmanufaktur, wie unsere ungekrönte Kommentar-Königin Gabriele Heck messerscharf in ihrem Bad-Kösen-Kommentar festgestellt hat. Schließlich hatten wir die Bahncard100 und konnten beliebig fahren; länger an einem Ort bleiben können wir bei unseren zukünftigen Reisen. Wir gehen vorbei am Reichenbacher Turm, der kommt morgen dran, über den Obermarkt und die Nikolaivorstadt Richtung Altstadtbrücke; überall fallen die geschlossenen Straßenzüge mit meist restaurierter mehrstöckiger Barock- und Renaissance-Bebauung auf, besonders spektakulär um den Untermarkt, um die Kirche St. Peter und Paul und in der Neißstraße mit einigen schönen Innenhöfen, Geschäften wie dem Senfladen, und urigen Lokalen. Auf der anderen Neißeseite, heute die polnische Stadt Zgorzelec, ist nur die Uferstraße alt, teilweise wird auch auf alt neu gebaut. Hinter dieser Kulisse erheben sich erhöht wie eine Kulisse die Plattenbauten aus sozialistischer Zeit. Die beiden Restaurants in der Uferstraße sind voll; wir werden auf deutscher Seite im Bürgerstübl fündig und sind mit den schlesischen Spezialitäten sehr zufrieden. Ab 1815 gehörte Görlitz zu Schlesien, das prägt heute noch das Leben mit Gerichten, Kuchen und Büchern, zumal die schlesische Zeit mit der Entwicklung der Industrie einherging. Auch wenn hier noch etwa ein Viertel der Gebäude auf die Sanierung warten, sind wir höchst beeindruckt von der riesigen Fläche komplett historischer Bauten. Im Hotel bereiten wir uns auf die Details des morgigen Tages vor.

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3 Antworten auf 7. Oktober: von Bärenstein nach Görlitz

  1. Ulf Greifzu sagt:

    Sehr geehrte Frau Jonas, sehr geehrter Herr Krueger!

    - Die nachfolgenden Informationen sind aus der Erinnerung geschrieben und bedürfen sicher einer Verifikation bzgl. des Inhaltes, also ohne Gewähr -

    Bei meiner immer wieder einmal durchgeführten Recherche nach Bildern und Informationen über meinen früheren Heimatort Bärenstein bin ich auf Ihren Reisebericht gestoßen. Es war interessant, Eindrücke zu lesen, die Besucher von einer Gegend gewinnen und mitnehmen, in der ich Kindheit und Jugend verbracht habe. Auf der einen Seite teile ich viele Ihrer wiedergegebenen Eindrücke, auf der anderen jedoch braucht man einfach mehr Zeit, um bestimmte Dinge einordnen und bewerten zu können. So sprechen Sie das sicher auf den ersten Blick riesige und durch seine Dominanz beindruckende Bahnhofsgebäude von Weipert an. Warum ist es so groß gebaut worden, obwohl doch in dem Tal so wenig Platz ist, wie Sie schreiben? Es war der Endpunkt der Buschterahder Eisenbahn und Übergangsbahnhof nach Deutschland, als es entstand. Die genannte Privatbahn machte ihr wesentliches Geschäft mit Braunkohlezügen aus dem Böhmischen Becken zur Versorgung der sächsischen Industrie. Allerdings wurde schon bald eine zweite Bahnstrecke über den Erzgebirgskamm gebaut, die über Reitzenhain führte und deutlich kürzer war. Damit war ein wesentlicher Teil der Geschäftsgrundlage der Buschterahder Bahn nicht mehr gegeben. Die politischen Verhältnisse nach dem 2. Weltkrieg taten ein Übriges, der Bahnhof in Weipert war zunehmend dem Verfall durch Nichtnutzung preisgegeben. Grenzbrücke und Bahnbrücke waren undurchlässig, obwohl hier “freundschaftlich verbundene Bruderländer” aneinander grenzten. Spätestens der Prager Frühling setzte hier einen Schlussakkord für den Grenzverkehr.

    Erfreulich ist zu lesen, dass Sie Herrn Frank kennenlernen konnten, der einer der Ortschronisten ist und in dessen Radiogeschäft ich noch Dioden und Widerstände für Radiobasteleien eingekauft habe – Conrad gab es damals für uns nicht, und das nächste entsprechende Fachgeschäft befand sich in Chemnitz.

    Ich hoffe, Sie haben viele Fotos von Bärenstein gemacht, welches sich in letzter Zeit sehr schnell verändert, insbesondere durch den Abriß von Gebäuden (in einem davon hatte der jetzige Betreiber des Berghotels früher ein Gemüsegeschäft). Der große Bahnhof von Weipert ist das nächste Opfer, obwohl er so geschichtsträchtig ist – Sie haben ihn noch gesehen. Im Bereich der neuen “Gemeinsamen Mitte” sind 2011 zwei Häuser verschwunden, weitere fünf (davon ein Fabrikgebäude) im letzten Jahr. Das Bahnhofsgebäude von Bärenstein, seit Mitte der 90er ohne Funktion, wurde soeben für unter 10000 EUR versteigert, den neuen Eigentümer und seine Pläne kennt niemand. Der Bürgermeister des Ortes sprach in diesem Zusammenhang damit nur davon, dass es “kein Interesse” an dem Gebäude gab. Für meine Begriffe sehr viel Ernüchterung und Apathie…wie leider an vielen Orten in Ost- und Westdeutschland.

    Ich hätte Ihnen sehr gern positivere Eindrücke gewünscht, vielleicht kommen Sie trotzdem einmal wieder nach Bärenstein oder die schöne Erzgebirgslandschaft. Ich komme immer wieder zurück, auch wenn diese Beziehung inzwischen auch einige Höhen und Tiefen erlebt hat – oder vielleicht gerade deshalb.

    Sofern Sie noch Bilder gemacht haben, die nicht im Netz veröffentlicht sind, würde ich mich über eine kleine Auswahl davon mit Ihren Kommentaren und Titeln freuen.

    Mit freundlichen Grüßen
    Ulf Greifzu, Berlin

  2. Peter Krauss sagt:

    Ich guck auf den Kalender und sehe: heute ist ja schon der letzte Tag eurer Reise! Also schnell noch mal reinschauen:

    Das Foto mit dem kleinen Holzhäuschen hat es mir angetan – es strahlt so eine Ruhe aus. Sonst ist diese Gegend offenbar nicht sehr stimmungsaufhellend.

    Die Erfahrungen und Erlebnisse im ehemaligen Grenzgebiet mit ihren Licht- und Schattenseiten wären eine eigene Ausgabe eures Reiseberichtes wert: Ein Kapitel im deutsch-deutschen Geschichtsbuch.

  3. Gabriele Heck sagt:

    Hallo Ihr beiden,

    das ist ja schade, dass Ihr in den letzten Reisetagen so Ungastliches erleben müsst.
    Insgesamt habe ich jedoch den Eindruck, dass solche Erlebnisse bezogen auf die gesamte Reise “untergehen”.
    Wie oft seid Ihr sehr herzlich empfangen worden, wie oft ist man Euch mit großem Interesse begegnet und wie oft hat man Euch tatkräftig unterstützt!
    Ich glaube, Ihr könnt in Summe eine sehr positive Bilanz ziehen!!

    Ich bin gespannt auf die Berichte und Fotos für den 8. und 9. Oktober und werde heute später nochmals reinschauen …